ASC Gründungstagung
Erste wissenschaftliche Tagung des Arbeitskreises für sozialwissenschaftliche China-Forschung bei der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde (ASC, Association for Social Science Research on China): „Funktionswandel und Kapazität des Staats in China“
Institut für kulturvergleichende Wirtschaftsforschung der Universität Witten/Herdecke
17.-18. November 2000
Konferenzbericht von Carsten Herrmann-Pillath, ASIEN 78 (S. II–IV)
Die erste Mitglieder-Tagung des ASC setzte sich zum Ziel, eine intensive Debatte über die veränderte Rolle des Staates in Chinas Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu initiieren. Im Vorfeld der Planungen von Aktivitäten des ASC war Einigkeit erzielt worden, dass diese Problematik eine zentrale Bedeutung für die gegenwärtigen Veränderungsprozesse besitzt und dass sie gleichzeitig notwendig auf einen transdisziplinären Diskurs hinführt, der neuere theoretische Ansätze zum Staat reflektieren muss. Das Format der Tagung betonte Freiräume für die intensive Diskussion.
Es wurden vier Papiere vorgetragen, davon eines durch einen eigens eingeladenen Wissenschaftler aus den Fachdisziplinen, den Politilogen und Volkswirt Alexander Ebner, Frankfurt, „Der Staat als Unternehmer: Neuere Denkansätze zur Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft“. Ebner stellte in einer „tour d’horizon“ die dogmengeschichtliche Entwicklung von schumpeterianischen Konzeptionen zur Rolle des Staates in der Wirtschaft vor. Anlass für die Auswahl der Thematik war die Feststellung, dass im heutigen China der Staat und seine Vertreter in hohem Maße unternehmerisch handeln, und zwar in legitimer wie in illegitimer Weise. Ebner setzte sich daher mit der theoretischen Behandlung des „Staats als Unternehmer“ auseinander und thematisierte insbesondere neo-schumpeterianische Ansätze zum „kollektiven Unternehmertum“. Die Diskussion zeigte, dass noch große Distanzen zwischen der theoretischen Schlüssigkeit solcher Konzepte und ihrer Anwendung auf Fälle wie China zu überwinden sind. Je differenzierter die Theorie, desto größer scheinen die Spielräume ihrer Anwendung zu werden, was gleichzeitig einen kritischen Hypothesentest erschwert. Auf der anderen Seite wurde aber auch deutlich, dass modelltheoretisch einfache Konzepte, die empirisch trennschärfer sind, wie in der Wirtschaftswissenschaft die neoklassische Staat/Markt Dichotomie, an der Komplexität der chinesischen Realität scheitern müssen.
Die im Referat von Ebner aufgeworfene Problematik stand auch im Zentrum einer langen Diskussion über den Begriff der „staatlichen Kapazität“, die sich an das Referat von Michael Meyer, Heidelberg, „Wirtschaftspolitik und State-Building: Die nationalchinesische Industriepolitik in historischer Perspektive“ (Korreferent: Sonja Opper, Tübingen) anschloss. Meyer untersuchte die gängigen Vorstellungen vom „ostasiatischen Entwicklungsmodell“ im Lichte der historischen Genese von ordnungs- und entwicklungspolitischen Ideen chinesischer Ökonomen in den dreißiger Jahren und ihrer Übertragung in die wirtschaftspolitische Praxis Taiwans. Er betonte die enge Wechselwirkung zwischen solchen Ideen und dem Prozess des „state-building“, was die Frage aufwarf, in welcher Weise staatliche Kapazität die wirtschafts- und ordnungspolitische Gestaltungskraft bestimmt. Die kontroverse Debatte drehte sich unter anderem um den Punkt, wie eigentlich „staatliche Kapazität“ identifiziert und gegebenfalls auch gemessen werden kann. Gleichzeitig wurde deutlich, dass eine Spannung zwischen der engen Anwendung des Begriffs in der Entwicklungspolitik und der allgemeinen Frage staatlicher Steuerungsfähigkeit besteht. Die Diskussion verdeutlichte, dass der Begriff mit seiner scheinbaren „sozialtechnologischen“ Neutralität tatsächlich eine starke normative Komponente besitzt, die sich aus dem Mittel-Ziel-Konnex ergibt. Daher hängt staatliche Kapazität eng mit Konzepten wie „Autorität“ und „Legitimität“ zusammen.
Genau das zuletzt genannte Konzept war Thema des Referates von Heike Holbig, Hamburg, „Zur Legitimation staatlicher Herrschaft in China unter den Bedingungen außenwirtschaftlicher Öffnung“ (Korreferent: Björn Alpermann, Köln). Sie griff die Kritik des Politikwissenschaftlers Beetham an der Weberschen Theorie legitimer Herrschaft auf und versuchte am chinesischen Beispiel zu klären, welche Beziehung zwischen gleichsam „objektiven“ Formen der Legitimität (wie Regelkonformität) und ihrer Verwurzelung in subjektiver Zustimmung durch die Bürger besteht. Gleichzeitig war zu klären, welche Bedeutung die zunehmende Integration der VR China in weltgesellschaftliche Zusammenhänge für Formen der Legitimierung der Herrschaft der KP besitzt. Die Diskussion offenbarte radikal konträre Positionen zum Konzept der Legitimität, die gleichzeitig prinzipielle methodologische Differenzen markierte. Einerseits wurde die Meinung vertreten, dass der Begriff der Legitimität vollkommen nutzlos für die Erklärung beobachtbarer politischer Prozesse sei, weil er nicht empirisch operationalisiert werden kann, andererseits wurde entgegengehalten – und dann auch in der angerissenen Debatte um „staatliche Kapazität“ erneut vertreten –, dass staatliches Handeln immer nur vermittelt durch Perzeptionen und kognitive Modelle der Bürger wirksam wird, sodass beispielsweise hermeneutische Ansätze hinzugezogen werden müssen.
In den Diskussionen tauchte immer wieder der Punkt auf, inwiefern der chinesische Staat und auch die KP Chinas überhaupt als integrale und homogene „Akteure“ begriffen werden dürfen. Sobald freilich die Fragmentierung dieser Organisationen ausdrücklich anerkannt wird, kann die Komplexität der Prozesse eigentlich nur noch in konkreten Fallstudien bewältigt werden. Eine solche Fallstudie stand im Mittelpunkt des Papiers von Doris Fischer, Duisburg, „Rückzug des Staates aus dem chinesischen Mediensektor? Neue institutionelle Arrangements am Beispiel des Zeitungsmarktes“ (Korreferent: Gunter Schubert, Heidelberg). Sie versuchte, die derzeitigen Veränderungen im chinesischen Zeitungswesen und hier insbesondere die Entstehung regionaler Zeitungsgruppen vertragstheoretisch zu erklären. Die Gruppen wurden als institutionelles Arrangement zur Etablierung je einer wirtschaftlichen und einer politischen Vertragsbeziehung zwischen Staat als Prinzipal und Unternehmen als Agent interpretiert, wobei die erstere die Gewinnerzielung und die zweite politische Loyalität zum Gegenstand hat. Der Übergang zur Ebene der Fallstudie zog in der Diskussion unter anderem eine noch weitergehende Radikalisierung der Forderung nach Mikrofundierung (oder akteurstheoretischer Fundierung) nach sich, da die vertragstheoretische Konzeption erfordere, die interagierenden Personen und die mit ihnen zusammenhängenden organisatorischen Prozesse konkret zu identifizieren.
In der Schlussdiskussion wurde einmütig festgehalten, dass die Thematik der Tagung keinesfalls abschließend abgehandelt werden konnte. Die Frage nach Natur und Funktionsweise des chinesischen Staats soll daher auch in den folgenden Tagungen des ASC verfolgt werden, unter anderem in Form einer Fokussierung der Beziehung zwischen zentraler Kontrolle und dezentraler Initiative (etwa auf der Ebene lokaler Gemeinschaften).
Das Format der Tagung wurde ebenso einhellig begrüßt. Die künftigen Mitglieder-Tagungen des ASC sollen die gewonnenen Spielräume für die Diskussion unbedingt bewahren und nicht durch zu enge Programmplanung annulieren. Außerdem wurde beschlossen, künftig Referate immer durch zwei Korreferate zu begleiten, von denen sich eines auf die empirischen chinawissenschaftlichen Fragen konzentriert und das andere auf die theoretischen Ansätze. Auch künftig werden externe Fachkolleginnen und -kollegen eingeladen, um zur Arbeit des ASC beizutragen.
Die Tagung wurde durch Mittel des Märkischen Arbeitgeberverbandes unterstützt, dem an dieser Stelle gedankt sei.
Carsten Herrmann-Pillath